Hilfsmittelverordnung durch Pflegekräfte – Tolle Chance noch viel zu wenig genutzt

Vor zwei Jahren hat sich im deutschen Hilfsmittel-Erstattungssystem eine kleine Sensation ereignet: Für Pflegehilfsmittel, wie z.B. Wund- und Verbandmittel, aber auch Inkontinenzhilfen bis hin zu Dusch- und Adaptivrollstühlen, wurde die Verordnungshoheit der Medizin gekippt. Die Entscheidung, was für die Patienten in ihrem Alltag wichtig und notwendig ist, liegt nun in den Händen der Menschen, die diese Patienten auch persönlich gut kennen.

Die Neuregelung im §40 des Sozialgesetzbuch XI bildet eigentlich nur die gelebte Realität ab, in der häufig die Pflegefachkräfte bei den Fachärzten Rezepte für die notwendigen Hilfsmittel „anfordern“. Nun wird ein bürokratischer Schritt übersprungen und die Pflege gestärkt.


Der Gesetzgeber wollte, dass Pflegebedürftige in der häuslichen Pflege schneller als bisher geeignete Hilfsmittel erhalten und setzt dabei auf die Kompetenz von ausgebildeten Fachkräften. Erkennen die Experten beim Hausbesuch einen Hilfsmittelbedarf, kann dieser als konkrete Empfehlung durch das Sanitätshaus beim Kostenträger statt eines Rezeptes eingereicht werden. Das spart wertvolle Zeit in der Versorgung, z.B. bei Problemen mit Wundversorgung, bei denen zur Prophylaxe sofort entsprechende Verbandmittel benötigt werden, um weitere Schäden zu vermeiden. Auch werden Hausarztpraxen entlastet und Bürokratie reduziert.

Auf der REHAB können neueste Produkte aus der Hilfsmittelbranche kennengelernt und ausprobiert werden. Foto: Jürgen Rösner, Messe Karlsruhe

Gute Maßnahme in Zeiten von Fachkräftemangel

Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein wichtiges Argument! Schließlich ist die ambulante Pflege zurzeit sehr gefordert, denn zwei Generationen Pflegbedürftiger kommen erstmals zusammen: Zum einen zunehmend mehr hochbetagte Menschen und natürlich die große Population der „Babyboomer“, die auch in Rente sind oder gerade gehen.


In der Richtlinie zur Empfehlung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln durch Pflegefachkräfte gemäß § 40 Absatz 6 SGB XI ist alles gut beschrieben: In der Anlage gibt es auch eine Liste der zu verordnenden Hilfsmittel. So können alle Pflegefachkräfte mit einer Qualifikation nach dem Pflegeberufegesetz (PflBG) entsprechende Empfehlungen aussprechen, die Erforderlichkeit bzw. Notwendigkeit der Versorgung mit dem empfohlenen Hilfsmittel oder Pflegehilfsmittel wird vermutet (sogenannte Vermutungswirkung). Der GKV- Spitzenverband hat dafür einen einheitlichen Vordruck bereitgestellt, der Bedarf kann aber auch „einfach in Textform“, wie bei einem normalen Rezept, bei den Kostenträgern eingereicht werden. Dabei geht es um Hilfsmittel, die „zuhause“ fehlen, nicht um stationäre Versorgungen.


Sven Kübler, der mit dem Competenz Netzwerk Außerklinische Intensivpflege CNI e.V. am 22. Mai 2025 auf der REHAB zusammen mit dem IPV Intensivpflegeverband Deutschland e.V. eine Podiumsdiskussion zum Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz IPREGH plant, sieht einen Meilenstein in der ambulanten Versorgung einer immer älter werdenden Gesellschaft:

Sven Kübler, CNI e.V.

Es sind zwar viele Produktgruppen in der Richtlinie enthalten, aber primär zeigt sich der gesetzliche Fokus auf die Pflege zuhause, denn es geht vor allem um Hilfsmittel für die Lebensbereiche Bad & Toilette, Mobilität, Pflegebetten, Transfer und Verbrauchsmaterial. Und das ist gut und richtig, denn die Pflegekräfte können die häusliche Situation und den Hilfsmittelbedarf häufig am besten einschätzen.

Ein großer Schritt zur Entbürokratisierung im Hilfsmittelversorgungsprozess

Und noch etwas war einmalig: Endlich räumte der Gesetzgeber den ausgebildeten Pflegefachkräften eine enorme Beurteilungskompetenz ein. Normalerweise können Hilfsmittelverordnungen durch Vertragsärzte jederzeit auf Wunsch der Kostenträger vom Medizinischen Dienst (MD) überprüft werden. Nach der neuen Richtlinie wird die medizinische Erforderlichkeit bei Empfehlung der Fachkraft als gegeben angenommen, und der MD wird nicht mehr dazwischengeschaltet. Damit sinken die gesetzlich gestatteten „Bearbeitungsfristen“ auf maximal drei Wochen, was schnelle Abhilfe in akuten Situationen begünstigt. Das ist gerade bei Versorgungen von Kindern wichtig, hier schließen sich Entwicklungszeitfenster, wenn die Genehmigungsprozesse zu lange dauern.


Allerdings, so die Stimmen aus der Praxis nach zwei Jahren, ist das Wissen um diese unkomplizierte und chancenreiche Verordnungsform noch nicht flächendeckend bei den Pflegenden „vor Ort“ angekommen. Es scheint, als seien viele Pflegkräfte unsicher, was sie dürfen und befürchten Regressforderungen.


Denise Falkenberg, Abteilungsleitung Medizintechnik bei Reha-aktiv Chemnitz, selbst Fachschwester für Anästhesie- und Intensivmedizin, bedauert:

„Es ist einfach schade, dass die meisten Pflegekräfte sehr schlecht darüber informiert sind. Man müsste dieses Thema viel präsenter machen. Wir haben mittlerweile eine Broschüre gedruckt, welche wir den Pflegediensten bei komplexen Versorgungen zur Verfügung stellen. Fakt ist, dass hier dringend mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden muss.“

Olivia Ristas vom Sanitätshaus Vitalzentrum Glotz hebt hervor, wie die neue Broschüre die Kompetenz der Pflegekräfte stärkt und den Prozess der Hilfsmittelerstellung deutlich vereinfacht. Foto: Olivia Ristas (privat)

Praktische Broschüre stärkt die Kompetenz der Pflegekräfte

Positive Erfahrungen im Raum Stuttgart hat Olivia Ristas vom Sanitätshaus Vitalzentrum Glotz gemacht: „Die Wertschätzung gegenüber der Pflegekraft hat dadurch ein tolles Upgrade erhalten, indem diese nun bestimmte Hilfsmittel selbst empfehlen dürfen und hier keine Verordnung durch den Arzt nötig ist. Man vertraut darauf, dass die Pflegekraft vor Ort am besten weiß, was der Patient benötigt. Die Prozesse sind deutlich schneller und kürzer geworden, der schriftliche Mehraufwand ist in Routine gewichen. Die Hilfsmittel werden uns von den Kostenträgern ohne weiteres sofort genehmigt.“


Die Kompetenz der Homecare-Pflegefachkräfte wirft auch der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) ins Rennen: „Wir haben in Deutschland über 10.000 examinierte und spezialisierte Pflegefachkräfte, die bei Hilfsmittel-Leistungserbringern und Homecare-Versorgern tätig sind und vor Ort versorgen sowie den gesamten Versorgungsprozess in der Häuslichkeit managen“, so BVMed-Expertin Juliane Pohl. „Wir müssen dieses Potenzial in die Sicherstellung der Versorgung und die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen besser einbinden.“


Um die ambulante Pflege zu stärken , wurde der Gesetzesentwurf zum Pflegekompetenzgesetz am 18. Dezember vom Bundeskabinett beschlossen.