Urteile mit weitreichenden Folgen: Bundessozialgericht ändert Rechtsprechung zur Mobilität im Nahbereich und setzt auf Selbstbestimmtheit und Teilhabe

Angepasst an aktuelle Lebensverhältnisse hat das Bundessozialgericht (BSG) nun klargestellt, dass mobil sein im Nahbereich für Mobilitätshilfsmittel neu zu definieren ist. Am 18. April 2024 hat das Bundessozialgericht drei sehr praxisrelevante Entscheidungen dazu getroffen und damit den Anspruch auf eine selbstbestimmte Teilhabe noch einmal betont und gestärkt.

Ein erfreuliches Urteil für Menschen, die Hilfsmittel zu ihrer Mobilität benötigen: Gesetzliche Krankenkassen müssen auch dann Kosten für Hilfsmittel zu Mobilität übernehmen, wenn damit weitere Distanzen zurückgelegt werden können. Maßstab sind nicht mehr die Wege eines Fußgängers, sondern die tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten, um die Alltagsgeschäfte wie Arztbesuche, Einkäufe, Therapien und Bankgeschäfte zu erledigen. Damit gelten abstrakte Maßstäbe wie durchschnittliche Lebensverhältnisse o. ä. nicht, sondern die konkreten örtlichen Gegebenheiten. Realität ist, dass zum Beispiel Einkaufsmöglichkeiten nicht mal eben noch zu Fuß zu erreichen sind. Das Mobilitätsverhalten hat sich in der Bevölkerung erheblich verändert, was sich auch auf die Versorgung mit Hilfsmitteln auswirkt.

Höchstes Versorgungsziel „Selbstständigkeit“

Das BSG stellt mit seinen Urteilen klar, dass der Anspruch auf eine motorunterstützte Mobilitätshilfe nicht durch die Reichweite oder die Geschwindigkeit des Produkts eingeschränkt wird, solange der Nahbereich der Wohnung mit eigener Körperkraft und selbstständig nicht anders zumutbar erschlossen werden kann.

Jörg Hackstein als Fachanwalt betont dabei auch die Aspekte „Teilhabe“ und „Grundbedürfnisse“, welche von den Krankenkassen zu erfüllen sind. „Versicherte haben nicht nur Rechte auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung. Entscheidend ist, dass das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, den Nahbereich in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen. Z.B. sind sowohl ein Elektrorollstuhl als auch ein Greifreifenrollstuhl mit restkraftunterstützendem Antrieb geeignet, eine bestimmte Strecke von A nach B zurückzulegen. Aber zum Anspruch gehört auch, dass die Wege zur Erledigung der Alltagsgeschäfte mittels eigener Körperkraft zurückgelegt werden. Verfügt ein Versicherter noch über ausreichende Körperkraft, um seinen Rollstuhl selbstständig mit einem unterstützenden Antrieb zu nutzen, kommt ein Verweis auf einen Elektrorollstuhl nicht in Betracht, selbst wenn dieser für die Krankenkasse günstiger wäre. Es ist die Aufgabe des Hilfsmittelrechtes, dem Menschen mit Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen.“

E-Mobilität und andere Hilfsmittel selbst ausprobieren

Viele innovative „e-mobile“ Hilfsmittel finden Nutzende auf der 23. Europäischen Fachmesse REHAB vom 22. bis 24. Mai 2025 in Karlsruhe. Hier kann man direkt auf dem Messegelände, beispielsweise im Testparcours nach Herzenslust ausprobieren, welches Produkt geeignet ist, die angestrebten Versorgungsziele im Alltag zu erreichen.

Namhafte Aussteller wie Rehasense, Meyra, Alber, Decon und van Raam haben ihre Mobilitätshilfen mit elektrischen Antrieben den Bedürfnissen der Nutzenden angepasst oder bieten Zusatzantriebe für verschiedene manuelle Rollstuhlmodelle.

Annika Gehrmeyer, Team Lead Medizin & Gesundheit bei der Messe Karlsruhe, ergänzt:

„Unser Ziel ist es, bestehende Stärken der IRMA weiter auszubauen und ihre Relevanz für die Zielgruppe im Norden als wohnortnahe Messe auch weiterhin zu steigern. Zudem ergeben sich durch die Wechselwirkungen mit unserer REHAB zahlreiche Benefits für unsere Ausstellenden und Partner, wie beispielsweise eine gesteigerte Reichweite durch die Präsenz in Nord- und Süddeutschland, um jeweils die richtigen Besucherzielgruppen zu erreichen.“

Das Wissen um die Urteile zur Mobilität muss auch bei Kostenträgern ankommen

Die Information muss aber noch weiterverbreitet werden: Bisher merkt die Branche noch nicht viel von erleichterten Genehmigungen aufgrund der BSG-Urteile. Wenn ein Mensch ein spezialisiertes Hilfsmittel braucht, um eine Behinderung auszugleichen, dann steht ihm das zu. Deshalb war und ist eine ausgiebige Bedarfsfeststellung, eventuell eine Video- oder Foto-Dokumentation des „Ausprobierens“ und natürlich eine sachlich und fachlich gute Argumentation wichtig. Die Solidargemeinschaft kann nur das zahlen, was wirklich benötigt wird. Davon ab gibt es aber auch zunehmend Kunden, die solche Hilfen privat kaufen, weil sie sie in der Freizeit nutzen wollen.

Beratung und testen im qualifizierten Fachhandel A und O des Versorgungserfolges

Den Bedarf und die Passung von medizinischen Hilfsmitteln – auch e-mobile Produkten – ermittelt auch weiterhin der qualifizierte Fachhandel: „Echte Beratung findet in den spezialisierten Sanitätshäusern statt“, ist Simon Öhlschläger vom Stuttgarter Sanitätshaus Carstens überzeugt.

Simon Öhlschläger vom Stuttgarter Sanitätshaus Carstens

„Unsere Fachberater wissen über die verschiedenen Erstattungsmöglichkeiten und Kostenträger Bescheid, vielleicht kommt auch eine Erstattung über die Eingliederungshilfe, das Integrationsamt, das Arbeitsamt infrage. Außerdem kennen sie die möglichen Hilfsmittel-Alternativen, sowie die Krankheits- und Behinderungsbilder und dadurch bedingten Einschränkungen. Wir haben sogar schon für Speziallösungen mit Jobbike-Anbietern zusammengearbeitet, um z.B. den Weg eines Menschen mit Gehbehinderung zur Arbeit über eine Fahrrad-Sonderanfertigung zu ermöglichen.“