Der kindliche Spracherwerb und die Bedeutung früher Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen

Ein Expertenvortrag auf dem interdisziplinären Therapeutenkongress CON.THERA

Bei frühzeitiger Therapie bei einer Sprachentwicklungsstörung, können Spätfolgen wie Lese- und Rechtschreibstörungen vermieden werden. Foto: AdobeStock_315955219_nellas

Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) haben bei rechtzeitiger Therapie gute Chancen, sich normal zu entwickeln. Prof. Dr. Julia Siegmüller forscht am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie und betont: „Prävention hat in Deutschland leider keine Priorität." Eine unzureichende oder verspätete Therapie der Sprachverarbeitung könne zu Lese- und Rechtschreibstörungen beitragen und sich negativ auf den Bildungserfolg und sozialen Status der Betroffenen auswirken.


Laut der S3-Leitlinie zur frühen Therapie von SES hinkt Deutschland in der Forschung deutlich hinterher. Entsprechende Studien fehlen und therapeutische Interventionen erfolgen oft zu spät. Siegmüller kritisiert: „Noch immer nehmen wir die Manifestierung der SES im frühen Kindergartenalter in Deutschland einfach hin und behandeln aufwändig die Spätfolgen."

Sprachentwicklungsstörungen (SES) gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern im Kindesalter

Etwa 15 Prozent der zweijährigen Kinder weisen eine Sprachentwicklungsverzögerung bei altersentsprechender Allgemeinentwicklung auf (Quelle dbl).


Bereits mit Ende des zweiten Lebensjahres ist die Basis zur sprachlichen Weiterentwicklung gelegt: Gehirnareale, grammatikalische Grundstrukturen und ein Basiswortschatz sind entwickelt. Fehlt diese Grundstruktur, können Sprachreize nicht verarbeitet werden, was unbehandelt die weitere Entwicklung, Bildung und den sozialen Status der betroffenen Kinder negativ beeinflusst.

Sprachentwicklungsstörungen (SES) gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern im Kindesalter. Foto: AdobeStock_1037910185_Htet Wai Phyo__KI-Bild

Der Knackpunkt in der Sprachentwicklung ist die U7

Bei der U7, einer - für alle Kinder in Deutschland regelhaften - Früherkennungsuntersuchung mit 24 Monaten lassen sich Verzögerungen in der Sprachentwicklung bereits erkennen. Dennoch wird oft erst nach der U8 mit vier Jahren oder vor Schuleintritt therapiert. „Zu spät", sagt Siegmüller. „Die verschiedenen verpassten Entwicklungen sind bis zum Schuleintritt dann nicht mehr aufholbar."

Die OTUS-Studie erhebt Daten

– früh beginnende Sprachtherapie kann die Nachteile zum Schuleintritt auffangen

„Die Kinder, die wir mit zwei Jahren mit der OTUS-Therapie zu therapieren begannen, sind jetzt deutlich fitter gegenüber der Kontrollgruppe", erklärt Siegmüller. Die Kinder der Experimentalgruppe entwickeln weniger auffälliges Verhalten in der Vorschulphase, haben ein besseres grammatikalisches Verständnis und wesentlich seltener Lese-Rechtschreibschwächen.


Die Therapie berücksichtigt den individuellen Bedarf der Kinder. „Wir finden heraus, welche Reize das Kind benötigt und verarbeiten kann", sagt Siegmüller. Diese Hinweisreize werden spielerisch vermehrt eingebaut, um die nächsten Entwicklungsschritte zu fördern. Eine wöchentliche Therapiesitzung sei ideal, um eine ausgewogene Mischung aus Input und Verarbeitung zu gewährleisten. Ziel ist, dem Kind die Möglichkeit zu geben, mit allen Reizen, die in der Sprache vorkommen, klarzukommen und diese filtern zu können.

OTUS-Projekt: Optimale Therapie Umschriebener Sprachentwicklungsstörung


Ab einem Alter von drei Jahren zeigen Sprachentwicklungsstörungen eine chronische Manifestation. Im Projekt werden Kinder ab dem zweiten Geburtstag mit Sprachauffälligkeiten (sog. Late-Talker) bis zum Schuleintritt sprachtherapeutisch begleitet und entsprechend den Therapieintervallen und der Entwicklung ihrer sprachlichen Fähigkeiten dokumentiert und bei Bedarf logopädisch behandelt. Ziel des Projektes ist es, mit den erhobenen Daten zeigen zu können, dass eine Chronifizierung der Sprachentwicklungsstörung minimiert oder abgemildert werden kann, wenn die Kinder mit einer kontrollierten und theoretisch begründeten Therapie zum korrekten Zeitpunkt therapiert werden.

Die OTUS-Therapie ist eine Weiterentwicklung des Patholinguistischen Therapieansatzes, von Prof. Dr. Julia Siegmüller mit ihrer Kollegin Prof. Dr. Christina Kauschke in an der Universität Potsdam entwickelt.

Die Umsetzung der S3-Leitlinie ist ein wichtiger Schritt

„Der Erfolg unserer Methode gibt uns recht. Jetzt müssen wir diese Erkenntnisse in die Breite tragen und die Leitlinie umsetzen, damit bei der U7 oder einem Kita-Screening ein entsprechendes Risiko entdeckt und beobachtet werden kann.“ Der schnelle Einstieg in eine Therapie ist geboten, wenn das Kind sich nicht von allein weiterentwickelt. Spätestens zum dritten Geburtstag sollte eine Intervention beginnen.

Für Kinder mit multikulturellem Hintergrund fehlen Therapieansätze

Für viele der Erstsprachen dieser Kinder gibt es kaum bekannte Therapieansätze oder Erfahrungen, um diese parallel zum Erwerb des Deutschen einzusetzen. „Damit alle Kinder die gleiche Chance auf eine erfolgreiche sprachliche und soziale Entwicklung haben, müssen wir in die Erforschung der mehrsprachigen Erwerbsverläufe investieren“, mahnt die Sprachwissenschaftlerin an.

Der CON.THERA-Kongress findet parallel zur 23. Europäischen Fachmesse für Rehabilitation, Therapie, Pflege und Inklusion – REHAB Karlsruhe statt: vom 22. bis zum 24. Mai 2025 in der Messe Karlsruhe. Foto: Behrendt und Rausch, Messe Karlsruhe

Im Rahmen des CON.THERA-Therapeutenkongress vom 22. bis 24. Mai 2025, der parallel zur REHAB Karlsruhe stattfindet, wird Prof. Dr. Julia Siegmüller über die Therapie und die Outcomes des OTUS-Projektes sprechen.